Mittwoch, 8. August 2012

Mittwochs-Rezi: Der Märchenerzähler von Antonia Michaelis


4 von 5 Eselsohren

Das Cover fing schon bei der ersten Begegnung meinen Blick. Ob sich hinter dem Umschlag etwas Fantastisches oder etwas Reales verbarg, konnte ich auch nach genauerem Hinsehen nicht erkennen. 

Und auch der Klappentext bot mir keine wirkliche Hilfe. In welcher Welt spielt diese Erzählung? In welcher Form vermischen sich Realität und Geschichte? Lange habe ich gezögert, ob ich mich heranwagen soll. Aber nun tauchte das Buch in der Liste der Lieblingsbücher-Challenge auf. Und damit war die Entscheidung gefallen.


Belohnt wurde ich mit einem sprachlich herausragenden und sehr spannenden Buch, das eine zauberhafte Märchengeschichte mit der gar nicht zauberhaften Realität einiger Teenager in Greifswald vereint. Und das mir bis zum Schluss entsetzlich nahe ging.




Das Setting
Wir stehen mit der Ich-Erzählerin kurz vor dem Abi, als durch eine winzige Begegnung zwei Welten aufeinander treffen wie die Ostsee auf ihr Ufer. 

Auf der einen Seite haben wir Anna. Die querflötenspielenden Arzttochter in einem behüteten Heim. Sie meint ihr Leben zu kennen, will nach dem Abi als Au pair ins Ausland und danach Musik studieren. Sie trifft sich mit ihrer forschen, rauchenden Freundin in Diskos, diskutiert über Jungs und den Verlust der Jungfräulichkeit. Größere Probleme hat sie nicht.
Auf der anderen Seite steht Abel. Der als Drogenhändler verschriene Außenseiter, der oft fehlt, oft in den Kursen schläft und so gut wie gar nicht mit seinen Mitschülern in Kontakt tritt. 

Die Story
Ein Zufall lässt Anna auf Abel aufmerksam werden und ihre beiden Welten kleben aneinander fest wie zwei Bahnen Frischhaltefolie.

Das Mädchen entdeckt ein Leben jenseits ihres Wohlstandsvogelnestes. Mit mit Abels hinreißender kleiner Schwester, um die sich der Junge schon ihr ganzes Leben kümmert. Mit Plattenbausiedlung, neugierigen Nachbarn, gewalttätigen Stiefvätern, dunklen Hinterhöfen und einer verschwundenen Mutter.Zugleich entdeckt tausend Glücksmomente, neue Nähe und Verbundenheit. Ausflüge an den Strand, Eisessen beim Stadtbummel, Pfannkuchen im Wohnzimmer und alter Wein aus Wassergläsern. 

Vor allem aber ist da das Märchen von der kleinen Klippenkönigin und ihren Freunden auf dem Weg zum Festland. Eine Geschichte, die Abel seiner Schwester erzählt und in der er ihre Welt wie mit einem zauberhaften Spiegel einfängt und erklärt. Doch schleichend ändern sich die Kräfteverhältnisse von Ursache und Wirkung. Was ist erzählte Realität und was real werdende Erzählung? Als Menschen beginnen wie im Märchen zu sterben, muss Anna sich fragen, ob sie mit einem Mörder ihre Zeit verbringt.

Die Misstöne
Antonia Michaelis erzählt von der heutigen Lebensrealität, von Wohlstandsungerechtigkeit und Ghettoscheren. Dabei schildert sie die Gefühle und Situationen so eindringlich, dass es mir beim Lesen das Herz zerriss. Diese Intensität steht leider in einem fatalen Gegensatz zu ihren Beschreibungen von Gewalt und Ungerechtigkeit. Was sie mit dem Anspruch von Echtheit zu erzählen beginnt, wird nach und nach dem Spannungsbogen geopfert. So wird aus realer Schwarz-Weiß-Malerei an manchen Stellen eine realitätsferne Grauwaschung. Zwei Punkte stoßen mir besonders sauer auf:
  1. unverständlich, dass sie die wirklich existierende Arm-Reich-Welt mit Mord, Klischees und einem Blick durch die Mitleidsbrille der Wohlstandsbürger noch einmal überzeichnet. Die Gegensätze würden in ihrer schieren Existenz glaubhafter und damit schrecklicher wirken.
  2. unglücklich, dass sie bei Szenen mit Gewalt gegen Kinder und von Jugendlichen untereinander thematisiert den Weichzeichner einsetzt. Die Welt, die sie sich für ihre Erzählung gesucht hat, ist eine grausame. Sie hier durch extrem subjektive und verkürzte Schilderungen abzubilden, vermindert zwar dankenswerter Weise ihren Schrecken, tut den echten Opfern aber großes Unrecht.
Mein Fazit
"Der Märchenerzähler" bleibt trotz der Kritikpunkte ein absolut lesenswertes Buch. Es ist meiner Meinung nach eine Frage der Zielgruppe. Dank der existenten Schere der Lebenswirklichkeit ärmerer und reicherer Jugendlicher ist es leider nur für eine Seite jener Welt geeignet.

Den Kindern der Ghettos und Sozialsiedlungen unseres Landes wird es ein müdes Lächeln oder ein verärgertes Stirnrunzeln abringen. Doch ich glaube, dass es genug Annas in diesem Land gibt - ich denke, ich war mit 16 selber eine - und für die enthält das Buch den richtigen Mix aus Realität und Fiktion, um es nicht erschrocken wegzulegen, um es anzunehmen und den Blick für andere Lebenswelten zu öffnen. Und diese Mission ist wichtig.

Erschienen bei Oetinger
ISBN 978 3 7891 4289 5

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